Dieses Gedicht schrieb Mascha Kaléko in ihrem letzten Lebensjahr 1974. Sie hatte sechs Jahre zuvor schon ihren einzigen Sohn Steven und dann noch 1973 ihren Mann Chemjo Vinaver verloren und lebte einsam in Jerusalem.
Das Thema Einsamkeit interessiert mich nicht nur aus beruflichen Gründen sehr und dieses Gedicht finde ich sehr berührend. Gerade jetzt in der Zeit des verordneten und dabei vernünftigen Abstandhaltens denke ich vier Tage vor Weihnachten an diejenigen, die keinen Besuch bekommen können, die alleine sein werden und es vielleicht auch schon lange sind.
Keiner wartet
Alle müssen sie heim. Nur ich muß nicht müssen.
Keiner wartet, daß ich ihm das Essen richte.
Keiner sagt, komm, setz dich her. Wie bist du müde!
Schneidet mir keiner das Brot.
Keiner weiß, wie ich war mit achtzehn, damals.
Keiner stellt mir den ersten Flieder hin,
Holt mich vom Zug mit dem Schirm.
Ist keiner, dem ich beim Lampenlicht lese,
Was der Chinese vom Witwentum sagt:
„Die Gott liebhat, nimmt er zu sich,
Ehe er ihr den Geliebten nimmt.“