Im Sommerurlaub habe ich dieses schon 2012 erschienene Buch verschlungen und finde es großartig, dass meine Tochter es als Schullektüre in der Oberstufe lesen soll. Sie ist noch nicht überzeugt :-).
Die Geschichte handelt vom siebzehnjährigen Franz aus dem regnerischen Salzkammergut, der im Jahr 1937 von seiner ihn liebenden Mutter nach Wien geschickt wird, um in dem Tabak- und Zeitungslädchen, eben einer Trafik, ihres alten Freundes in die Lehre zu gehen. Das Wichtigste bei dieser Arbeit sei das Zeitunglesen, so betont sein Lehrherr Otto Trsnjek. Die Zeiten sind im Wandel: Juden werden offen angefeindet, Andersdenkende verfolgt und die Zeitungen gleichgeschaltet. Der anfangs naive Franz lernt das Geschäft eines Trafikanten kennen und bekommt eine Ahnung von Politik, von Ungerechtigkeit und Gewalt. Und er lernt den berühmten alten „Deppendoktor“ Sigmund Freud kennen, der Stammkunde Trsnjeks ist und anfangs noch hier seine Zeitungen und Zigarren kauft und eines Tages seinen Hut vergisst. Franz rennt ihm nach und sie kommen ins Gespräch:
„Stimmt es, dass Sie den Leuten ihre Schädel wieder gerade richten können? Und ihnen hernach beibringen, wie ein ordentliches Leben ausschaut?“…“Wir rücken überhaupt nichts gerade. Aber wenigstens renken wir auch nichts aus, und das ist in den heutigen Ordinationen gar nicht so selbstredend. Wir können gewisse Verirrungen erklären…“ „Und wie stellen Sie das alles an?“ „Die Menschen legen sich auf meine Couch und beginnen zu reden.“ „Das klingt gemütlich.“ „Die Wahrheit ist selten gemütlich“…“Hm, darüber muss ich nachdenken.“
Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch freunden sie sich an. Der gebrechliche und kranke Freud rät dem jungen Franz, sich zu amüsieren und sich ein Mädchen zu suchen. Diesen Rat befolgt er noch am selben Abend und er lernt Anezka kennen und lieben – und erlebt schnell das Liebesleid. Sie spielt eine besondere Rolle in diesem Roman: sie scheint etwas für ihn zu empfinden und bleibt dennoch im Unklaren. Sie arbeitet als exotische Nackttänzerin in der „Grotte“, in der er auch das politische Kabarett kennenlernt, und trifft auch andere Männer. Und sie ist wieder da, als er schon gegangen ist…
Besonders mag ich die Gespräche zwischen Franz und Sigmund Freud:
„Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?….Warum sehen Sie mich denn so komisch an, Herr Professor?…Als ob ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt hätte.“ „Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht.“
Die Ereignisse überschlagen sich dann im weiteren Verlauf: Die SS-Schergen holen sich den kritisch denkenden Trsnjek und Franz übernimmt die Trafik. Er verändert sich, wird erwachsener, mutiger und unglaublich hartnäckig. Eines Nachts sendet er dann eine sichtbare politische Botschaft, eigentlich eine Lausbubentat, die in dieser dunklen Zeit aber ungeheuerlich ist. Dafür muss er hart büßen.
Das Thema dieses sehr aufrührenden Buches ist aktueller denn je: In Österreich wird gerade offen über die Einschränkung der Pressefreiheit diskutiert (vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-pressefreiheit-kickl-1.4144258 oder https://www.zeit.de/kultur/2018-09/pressefreiheit-oesterreich-florian-klenk-falter-medienattacke-fpoe). Fremdenhass und Verhöhnung von Andersdenkenden und die Spaltung innerhalb unserer Gesellschaft beschäftigen uns alle und das in dieser Zeit, die noch nie sicherer und wohlhabender war! Und dennoch ist es jetzt wohl auch außerhalb von Stammtischen und anonymen Postings in Sozialen Netzwerken immer „normaler“, vielleicht schon seit Walsers unsäglicher Rede in der Paulskirche, offen juden- und ausländerfeindlich zu hetzen. Seethaler selbst wedelt nur einmal mit dem sprichwörtlichen moralischen Zeigefinger und zwar weithin sichtbar: „Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben im Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten einen Weg weist.“